Rabattschlacht in den Abgrund - „Das reicht nicht, aber mehr geht nicht.“

Wie geht es aktuell unseren regionalen Bio-Betrieben und der Bio-Lebensmittelbranche?

Empfehlen möchten wir den Artikel von unserem Xäls-Vorstand Michael Schneider aus der neuen Marktlese, der die derzeitige schwierige Situation und den hohen Druck für die Branche aufgreift. Es ist wichtiger denn je, dass wir gemeinsam für den Erhalt unserer Betriebe kämpfen!

"Die Deutschen geben ca. 2500 € pro Person und Jahr für Lebensmittel aus. Gut 200 € im Monat, 6,66 € pro Tag. Im Vergleich zum Vorjahr sind das aufgrund der hohen Inflation ca. 1 € mehr pro Person und Tag. Im globalen Vergleich ernähren wir uns aber auch am Ende des Jahres 2022 immer noch unschlagbar billig. Nicht unbedingt zum Wohle unserer Umwelt: Von Januar bis Juli haben die deutschen Konsument*innen um sechs Prozent weniger „nachhaltig“ eingekauft. Der Umsatz von verpackten Bio-Lebensmitteln von Herstellermarken ging zugunsten von billigeren Handelsmarken um neun Prozent zurück. Der Umsatzrückgang bei den Bio-Supermarktketten liegt bei 16,5 Prozent, der der kleineren Naturkostläden bei deutlich über 20 Prozent und die Rückgänge in den Reformhäusern sind mit fast 40 Prozent katastrophal. Dies hat natürlich massive Absatzprobleme für Bauern und Lebensmittelhandwerkern zur Folge. Leidet nur der Naturkostmarkt durch die massive Kaufzurückhaltung?

Ende Oktober trafen sich Reutlinger Unternehmer zum jährlichen Treffen mit dem politischen Personal der Stadt unter dem Motto „Wirtschaft trifft Kommune“. Dieses Treffen wurde in früheren Jahren in der Presse als eher „beschaulich“ eingestuft, dieses Jahr trifft das jedoch nicht so richtig zu! Der Reutlinger Metzger Jürgen Zeeb, der insgesamt 26 Filialen betreibt, hat seine prekäre Situation geschildert: Die Energiekosten in der Metzgerei steigen um ungefähr 700.000 € im Jahr, außerdem ist der Einkaufspreis für Fleisch um 40 Prozent gestiegen. Diese extremen Kostensteigerungen, so sagt er, könne nicht an die Kundschaft weitergegeben werden. Personalnot und Umsatzeinbrüche verschärfen die Situation zusätzlich. Am Ende des Abends kommentiert er: „Die Leute haben gestaunt. Dass wir so große Schwierigkeiten haben, hätten sie nicht vermutet.“

Als wir im Sommer an beiden Standorten die Öffnungszeiten mit dem Hinweis auf unsere angespannte Personalsituation verringert haben, gab es, wenn auch nur vereinzelt, Unmutsäußerungen zu unserem Vorgehen. Unter anderem wurde gemutmaßt, die kürzeren Öffnungszeiten seien Ausdruck dessen, dass wir es „nicht mehr nötig“ hätten, da wir schon so viel Geld verdient haben. Nein, wir haben die Öffnungszeiten nicht verkürzt, weil wir es nicht mehr nötig haben. Wir haben sie gekürzt, weil wir die Belastung unserer Belegschaft vor dem nächsten Covid-Winter reduzieren wollten und angesichts der starken Umsatzrückgänge Kosten sparen mussten.

Nach bald fünf Jahren Großbaustelle am Europaplatz, drei Jahren Pandemie und steigenden Einkaufs- und Energiepreise blieb jetzt auch nicht direkt was übrig, um Reserven ansparen zu können. Dass wir das überstehen konnten, lag auch daran, dass ein Teil der Umsatzverluste am Vogelbeerweg kompensiert werden konnten. Und das haben wir, das ist uns vollkommen bewusst, der überaus großen Treue unserer Kundschaft zu verdanken. Aber es konnte eben nur ein Teil des Rückgangs kompensiert werden.

Metzger Zeeb sagte in seiner Ansprache bei dem Treffen, er habe die Preise dieses Jahr 2022 zweimal um je fünf Prozent erhöht. Sein Kommentar dazu: „Das reicht nicht aus, aber mehr geht auch nicht.“ Kann er nicht rechnen oder traut er sich nicht?

Uns geht es wie dem Metzger Zeeb: 2022 war auch für uns im Marktladen ein sehr schlechtes Jahr. Und die Probleme durch hohe Energiekosten, Personalknappheit und Umsatzeinbrüche teilen wir mit ihm und vielen anderen in der regionalen Lebensmittelbranche. Bei den momentan vorliegenden Informationen von den Tübinger Stadtwerken müssen wir allein bei den Stromkosten mit einer Verdreifachung und somit mit einer Steigerung um 100.000 € im neuen Jahr rechnen. Wenn die Umsatzverluste vom Jahr 2022 nicht wieder korrigiert werden können, brauchen auch wir 2023 allein zur Kompensation dieser Mehrkosten eine Preisanhebung von fünf Prozent. Und nochmal fünf Prozent, um aus dem tiefen Tal im Jahre 2022 herauszukommen.

Aber was sind die Folgen, wenn die Einschätzung, „Das reicht nicht aus, aber mehr geht auch nicht“, bei vielen kleinen, regionalen Verarbeitern und Händlern umgesetzt wird? Und was machen die Großen?

Wie nie zuvor sind die Gewinner dieser Situation die Discounter Lidl und Aldi. Verlierer sind die Bäckereien und Metzgereien, Lebensmittelhändler*innen, Naturkostladner*innen und viele andere mehr. Viele von ihnen werden ein zweites Jahr wie 2022 nicht überleben. Die düstere Prognose einer Fachfrau aus der regionalen Fleischbranche ist, dass in den nächsten wenigen Jahren zwei Drittel der Metzgereien in der Region Neckar-Alb aufhören werden. Das wäre dann nicht der so oft zitierte und häufig politisch gewollte Strukturwandel, sondern käme einer Zerstörung aller regionalen Vermarktungsstrukturen innerhalb weniger Jahre gleich. Konventionell wie ökologisch erzeugt. Und dann?

Die mächtigen Konzerne der Branche bauen ihre Macht aus. Und sie erhöhen schamlos die Preise, oft unbemerkt und auf „Umwegen“: Sie verringern die Größe und Anzahl von Klopapier-Blättern, genauso wie sie die Füllmengen bei Chipstüten oder Haferflocken reduzieren. Es gibt von der Verbraucherzentrale Hamburg eine sog. „Mogelpackungsliste“. Einige Beispiele daraus sind in untenstehender Tabelle zu sehen.

Tabelle Mogelpackungen

Gegen diese Schummeleien können alle Verbraucherzentralen der Republik protestieren, wenn die Konsument*innen darauf nur mit Achselzucken reagieren ändert sich gar nichts. Gewechselt wird von ihnen momentan nur in eine Richtung, nämlich hin zu den Discountern. Der Slogan „In jedem Edeka steckt ein Discounter“ ist seit Monaten der Versuch, diese Abwanderung zu verhindern. Die momentane Entwicklung zeigt auf, was uns bevorsteht: Der Konzentrationsprozess in der Lebensmittelbranche geht ständig weiter und beschleunigt aktuell sogar. Die „Big Four“ Edeka, Rewe, Schwarz-Gruppe und Aldi erwirtschaften 75 Prozent des Umsatzes im Land. Selbst in einer Situation wie der jetzigen, in der ein nie dagewesenes „Preisbewusstsein“ bei den Konsument*innen herrscht, schaffen sie es ohne Probleme, Preisaufschläge durchzusetzen, von denen der Naturkosthandel oder die Fachgeschäfte des Metzger- und Bäckerhandwerks nur träumen können. Dem Stückpreis einer Brezel und dem Kilopreis von Kartoffeln, Äpfeln oder Schweineschnitzeln sieht man jede Preiserhöhung sofort an. Da gibt es nichts zu verschleiern!

Noch nie in meiner 30-jährigen Einzelhändlergeschichte stand die Struktur der regionalen Lebensmittelwirtschaft in Erzeugung, Handwerk und Handel so massiv unter Druck. Neben dem Höfesterben wird es ein Metzger-, Bäcker- und Bioladen-Sterben geben mit bisher ungekanntem Tempo und Ausmaß. Und dies in einer Zeit, in der die regionale Lebensmittelversorgung womöglich zur größten Herausforderung der kommenden Jahre wird. Klimawandel, Artensterben und weltweite Lieferketten, die immer mehr in Frage stehen, sollten uns eigentlich bewusst machen, wie anfällig unsere Lebensmittelwirtschaft ist.

30 Jahre Marktladen liegen hinter uns! Wir stehen nach wie vor für eine regionale Bio-Lebensmittelwirtschaft mit regionaler Wertschöpfung und partnerschaftlicher Zusammenarbeit. Wir tun unser Bestes und versuchen, gemeinsam mit Ihnen an der Verbesserung der regionalen Resilienz zu arbeiten. Das geht nicht ohne Preissteigerungen, auch im nächsten Jahr nicht. Wir hoffen, dass wir trotzdem weiterhin auf Ihre Unterstützung setzen können. Und ich möchte es zum Schluß nicht versäumen, besonders unseren Mitarbeiter*innen zu danken, die uns unverdrossen und mit viel Engagement durch die wirklich schwierigen Jahre begleitet haben und wir werden mit ihnen zusammen alles dafür tun, dass es eine gute Marktladen-Zukunft in Tübingen gibt."